artibeau : kunst in bochum - umsonst und draußen

Klagende Mutter (Niobe-Mosaik) (1954)

Position in Karte zeigen (Neues Fenster).

Ignatius Geitel (Bochum, 1913-1985)
1954
Glas

Der Hauptfriedhof Freigrafendamm entstand von 1935 bis 1941 in konsequent nationalsozialistischer Bauauffassung. Die Friedhofsanlage ist, soweit bekannt, das einzige vollendete und erhaltene Beispiel dieser heroisch-faschistischen Staats- und Parteiarchitektur im Ruhrgebiet. Die Bauten des Friedhofs Freigrafendamm sind bis ins Detail durchdrungen von nationalsozialistischer Ideologie.

Der Großen Trauerhalle gegenüberliegend, auf der linken Seite vom Eingang her, befindet sich das Mahnmal zur Erinnerung an die Toten des Zweiten Weltkriegs. Die Entstehung dieses Mahnmals hängt eng mit der Schaffung eines sogenannten „Ehrenteils“ des Friedhofes für Kriegsopfer zusammen. Das Mahnmal besteht aus einem Hochkreuz und einem großflächigen Glasmosaik rechts davon.
Einer Anregung von Stadtbaurat Clemens Massenberg folgend, beauftragte der Rat den bekannten Bochumer Glasmaler Ignatius Geitel 1953 mit dem Entwurf eines Mosaiks, das als Motiv eine klagende Mutter zeigen sollte. Ignatius Geitel hat diesen Entwurf, wie es bei ihm die Regel war, eigenhändig kunsthandwerklich umgesetzt. Er unterteilte die ca. 4 Meter lange und 2,40 Meter hohe Bildfläche in 40 etwa gleichgroße Felder und fügte in ihnen Steinchen für Steinchen zusammen; alles in allem sollen es rund 40.000 sein. Die Mosaiksteinchen schlug er selbst aus opakartigem Glasfluss, der als besonders widerstandsfähig galt und seine Farbkraft lange behalten würde. In seiner Werkstatt in dem alten Maschinenhaus der stillgelegten Zeche Carl Friedrichs Erbstollen in Stiepel dauerte es mehr als ein Jahr, bis das Mosaik fertig war. Unmittelbar vor dem 4. November 1954, dem Zehnten Jahrestag des furchtbarsten Bombenangriffs auf Bochum, war das Mosaik fertiggestellt.

Das Mosaik zeigt eine schmerzvoll klagend nach oben blickende Frau. Die linke, an die Wange gelegte Hand unterstreicht ihr Klagen, während der rechte, herabhängende Arm einen der beiden Knaben berührt, der offenbar leblos zu ihren Füßen liegt. Der andere lehnt sich - wohl gleichfalls sterbend - gegen den Körper der Mutter. Der dunkle Hintergrund mit seinen schwarzen und grauen Mosaikflächen, unterbrochen von angedeuteten grünen Feldern und stürzenden roten Bauten, lässt die in starken Farben geschaffenen Gestalten, vor allem die blau gewandete Frau mit ihrem goldgelben Haar, plastisch hervortreten.

Geitel hat mit dieser Szene, die Schmerz, Klage und Anklage ausdrückt, auf die antike Mythologie zurückgegriffen: Er stellte Niobe, die Königin von Theben, dar. Sie hatte nach den Schilderungen Homers die Göttin Leto verärgert. Auf Geheiß der Göttin tötete daraufhin Artemis die sieben Töchter und Apollon die sieben Söhne der Niobe mit Pfeilen. In ihrem unaufhörlichem Weinen und Klagen wurde diese schließlich zu einem Felsen, aus dem ihre Tränen weiter als Quellen strömen. Ignatius Geitel hat sich sowohl in seinen Studien als auch in seiner Kunst häufig mit Gestalten und Geschehnissen der antiken Mythologie befasst.

Ignatius Geitel wirkte seit den 1920er Jahren als Künstler. Er gehörte in der Zeit des Nationalsozialismus zu den nicht konformen Künstlern, die kaum Gelegenheit hatten, tätig zu werden. Seine wichtigen Arbeiten der dreißiger Jahre entstanden im kirchlichen Raum. Kriegsteilnahme und Kriegsgefangenschaft hinderten Geitel bis 1949 an weiterer Arbeit, die er dann aber mit großem Einsatz wieder aufnahm. Er gehörte 1952 zu den Gründern der Künstlergruppe „Hellweg“ in Bochum, die im Sinne einer Werkgemeinschaft Kunst im öffentlichen Raum ins Gespräch bringen wollte.

Zu Hause waren die Hellweg-Mitglieder als „Avantgardisten“ verschrieen.

Die heimischen Zeitgenossen beeindruckte Ignatius Geitel „mit Glasfenstern und unerhört gefügten Farbigkeiten“.

„In den 1950er und 60er Jahren gehörte Ignatius Geitel zu den meistbeschäftigten Bochumer Künstlern im öffentlichen Raum und muss neben Heinz Wilthelm wohl zu den wichtigsten Glaskünstlern der Region gezählt werden. … Experimente mit Gussglas in Beton, Sgraffitos und Mosaike … gehören ebenso zu seinen Aufträgen wie traditionelle … Fenster mit biblischen Motiven.“ (Sepp Hiekisch-Picard, Katalog Museum Bochum)

Geitel hatte über die lokale Kunstszene hinaus Beziehungen zur internationalen Kunstszene.

„Eine große Bedeutung für Geitels Schaffen in der Mitte der 50er Jahre hat der 1946 in Paris neugegründete Salon der ‚Réalités Nouvelles‘, dessen Satzung sich die Verbreitung abstrakter Kunst zum Ziel gesetzt hat.“ (Sepp Hiekisch-Picard, Katalog Museum Bochum)

1988 hat die Witwe des Künstlers die Stadt erstmals auf Schäden an dem Mosaik hingewiesen. Der „Leidensweg“ des Kunstwerks dauerte aber an bis zum Jahr 2003, als das mittlerweile stark beschädigte Mosaik endlich vollständig wiederhergestellt wurde. Clemens Kreuzer (s.u.) sieht diese Geschichte als „typisch für den hiesigen Stellenwert von Kunst im öffentlichen Raum“.

Standort:
Hauptfriedhof Bochum am Freigrafendamm
Immanuel-Kant-Straße, 44803 Bochum

Siehe auch:
Sgraffiti „In der Uhlenflucht“
Sgraffito Waldschule
Sgraffito Don Bosco Grundschule
Mosaik Berufskolleg Ostring
Heilig-Geist-Kirche Harpen
Friedhof Freigrafendamm
Trauernde Alte

Nachlesen:
bochum.de: Clemens Kreuzer, Das Niobe-Mosaik des Ignatius Geitel
bochum.de: Bochum in Trümmern - Gedenken an den 4. November 1944
Stiftung Forschungsstelle Glasmalerei des 20. Jahrhunderts e.V.: Ignatius Geitel (mit zahlreichen farbigen Abbildungen)
Magda Felicitas Auer (Blog): Hellweg- Werkgemeinschaft Ruhr
Magda Felicitas Auer (Blog): 1968
Peter Spielmann: Ignatius Geitel 1913-1985. Katalog Museum Bochum 1988.

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Chronologie 1929-1958

1929  Bochum ist mit 74 Schachtanlagen Europas grubenreichste Gegend.

1930  Die Gebr. Alsberg AG mit ihrem Umsatz von 200 Millionen Reichsmark steht im Handel an dritter Stelle hinter den Unternehmen Hermann Tietz (Hertie) und Rudolf Karstadt.

1931  Das neue Bochumer Rathaus wird eröffnet.

1932  In Bochum und Wattenscheid zählen zur jüdischen Religionsgemeinschaft 1.288 Personen.

1933  Gründung des Bochumer Tierparks.

1935  Im Kaufhaus Kortum (vorher Alsberg) liegt ab August 1935 die „Bescheinigung über den erfolgreichen Vollzug der Arisierung“ in einer Vitrine im Eingangsbereich aus.

1938  Am 9. November 1938 findet die Pogromnacht statt. Die ersten jüdischen Bürger werden in die Konzentrationslager verschleppt. Zerstörung von jüdischen Einrichtungen und Wohnungen. Etwa 500 jüdische Bürger sind namentlich bekannt, die in den folgenden Jahren bei der Shoa umkamen, darunter 19, die jünger als 16 Jahre alt waren. Im Dezember 1938 beginnt die jüdische Volksschullehrerin Else Hirsch mit der Organisation von insgesamt 10 Kindertransporten nach Holland und Großbritannien, um jüdische Kinder und Jugendliche zu retten.

1938  Im Zuge der Gleichschaltung entsteht der VfL Bochum am 15. April 1938.

1943  Am 13. und 14. Mai sowie 12. und 13. Juni erfolgen die ersten von 150 größeren Bombenangriffen auf Bochum.

1944  Im Spätherbst 1944 sind insgesamt etwa 32.500 Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen und Kriegsgefangene in Bochum registriert, es gibt mehr als 100 Lager.

1944  Am 4. November 1944 treffen binnen 1 Stunde zwischen 19 und 20 Uhr 10.000 Sprengbomben und über 130.000 Brandbomben die Stadt. 1.300 Menschen sterben, 2.000 werden verwundet, 70.000 werden obdachlos.

1945  Am 10. April 1945 marschieren die Amerikaner in Bochum ein. Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund sind zu 50-70 % zerstört. Flüchtlinge strömen in das Ruhrgebiet.

1950  leben im Ruhrgebiet mehr Menschen als 1939.

1950  Nach der Währungsreform ist das Ruhrgebiet zehn Jahre die wirtschaftliche Schlüsselregion der jungen Bundesrepublik.

1952  Von 100 Arbeitern hat einer ein Auto, 2 haben ein Motorrad.

1954  Das Schauspielhaus Bochum wird wiedereröffnet.

1955-67  Bochum baut in zwölf Jahren über 60 neue Kindergärten, Schulen, Turnhallen, Bäder, Friedhöfe und anderes wie Ruhrlandhalle, Planetarium, Kammerspiele.

1955  Am 20. Dezember wird das deutsch-italienische Anwerbeabkommen unterzeichnet. Erste Gastarbeiter kommen.

1956  Fritz Graetz eröffnet das Graetz-Werk in Bochum (später Nokia).

1956  Erste Ölraffinerie im Ruhrgebiet (Gelsenkirchen).

1957  Am 30.Mai wird der neue Hauptbahnhof in Bochum eröffnet.

1957  Am 5. Oktober 1957 gelingt es Heinz Kaminski, die Signale des Satelliten Sputnik zu empfangen.

1957  Der Bergbau erreicht seine größte Bedeutung in der deutschen Geschichte. Rund 600.000 Bergleute fördern 149 Millionen Tonnen Steinkohle. Das Revier erbringt 12,3 Prozent der westdeutschen Wirtschaftsleistung.

1958  Die Kleinzeche „Lieselotte“ wird am 30. September als erste Zeche in Bochum geschlossen, damit beginnt das Zechensterben im Ruhrgebiet.

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